Bin ich richtig, wie ich bin? Darf ich so sein, wie ich bin? Müsste ich anders sein? Bin ich noch normal? Bin ich falsch?
Ich bin mit diesen Fragen, die ich mir jahrelang mehrmals täglich gestellt habe und die sich immer noch dann und wann einen Weg in mein Bewusstsein fressen, nicht allein. Im Gegenteil: Ich behaupte jetzt einfach mal, dass alle Menschen, zumindest alle Menschen, die ich kenne, sich mit diesen Fragen rumschlagen. Zugegeben mal mehr, mal weniger intensiv, aber oft über Jahre hinweg.
Das Schwierigste für mich persönlich war und ist: Was denken die anderen? Manchmal sind die Meinungen und Einstellungen der anderen in meinem Kopf so laut, dass ich meine eigene Stimme nicht hören kann. Inmitten dieser ganzen Meinungen der anderen meine eigene Wahrheit zu spüren, ist für mich die große Lebensaufgabe.
Je nachdem, was mich gerade beschäftigt, hat es meine eigene Wahrheit schwerer, sich Gehör zu verschaffen. Je intimer, je zerbrechlicher ein Thema ist, desto schwieriger wird es für mich. Und je selbstverständlicher ‚die Gesellschaft‘ mir ein Konzept als ‚normal‘ präsentiert, desto härter der Kampf, der in mir stattfindet. Ein Kampf, in dem ich abgleiche, ob das, was ich in mir als richtig empfinde, richtig sein kann, wenn ‚die Gesellschaft‘ mir suggeriert, dass es nicht ‚normal‘ ist.
Ich bin nicht normal
In Bezug auf meine Transidentität habe ich mich eine Zeit lang mit schlechtem Gefühl an dem abgearbeitet, was ‚normal‘ ist. Ich bin nicht ‚normal‘. Das wusste ich, das wussten die anderen. Relativ schnell schien es mir allerdings auch nicht mehr erstrebenswert, normal zu sein.
Der Duden nennt als Synonyme für das Wort normal unter anderem: allgemein gebräuchlich, alltäglich, durchschnittlich, gewöhnlich. Ich hatte schnell für mich klar, dass ich kein großes Interesse daran hatte, gewöhnlich oder durchschnittlich zu sein. Und dass ungewöhnlich nicht gleich falsch bedeutet, hatte ich auch schnell verinnerlicht.
Teil der Gemeinschaft sein
Was geblieben ist, ist der Wunsch, dazu zu gehören. Ich spüre es als basales Bedürfnis in mir, Teil einer Gemeinschaft zu sein. Und an dieser Stelle ist es ein anderes Wort, das mich immer wieder in eine andere Dimension strafversetzt: ‚natürlich‘ oder in meinem Fall ‚nicht natürlich‘.
„Du bist ja auch nicht natürlich“. Das war der Satz, der mich innerlich zum Umfallen brachte, nachdem ich knappe zwei Stunden mit einer Gruppe von ca. sechs Gesprächspartnerinnen über (meine) Transidentität gesprochen hatte.
Wir saßen zu später Stunde anlässlich des Geburtstags einer Freundin zusammen. Die meisten Gäste kannte ich gar nicht oder nur flüchtig. Das Gespräch war auf meine Transidentität gekommen, da ich vorher ein paar Songs gespielt hatte und einer der Gäste Agent war. Er hatte sich meine Website angeschaut und wir sprachen darüber, ob ich in meiner Biografie meine Transidentität erwähnen sollte, so wie es auf meiner Website der Fall war, oder lieber nicht.
Sechs Menschen aus völlig unterschiedlichen Kontexten ergaben natürlich sechs verschiedene Meinungen und auch wenn das Gespräch sehr anstrengend für mich war, hatte ich zumindest das Gefühl, dass ich auf Augenhöhe mit allen sprach.
Bis zu dem Punkt, wo ich sagte, dass es sich für mich natürlich anfühlt, wie ich jetzt bin, und dass es schmerzt, wenn andere das nicht so sehen. Als darauf hin ein Arzt aus der Runde meinte, ich sei ja nun auch nicht natürlich – das kam nicht als hasserfüllte Ablehnung, sondern mehr als nüchterne Betrachtung – strauchelte ich innerlich.
Ich fühlte mich wie aus der Runde heraus gerissen. Plötzlich war ich allein, die anderen weit weg. Sie die Natürlichen, ich der Unnatürliche, den sie betrachten und bewerten konnten aus ihrer legitimierten Position der Natürlichkeit. Und dann hörte ich, wie ich zugab: „Ja, klar, ich bin nicht natürlich.“
Hatte ich nicht meinen Körper künstlich geschaffen? Hatte ich nicht der Natur ins Handwerk gepfuscht? Mit Operationen und Hormonen? Hatte ich mich selbst nicht ins Abseits gestellt? Ich war, so fühlte ich es in diesem Moment, auf die Nachsichtigkeit aller anderen an diesem Tisch angewiesen. Darauf, dass die ‚Natürlichen‘ mir einen Platz in der Gruppe ließen, ohne dass ich jemals wieder das gleiche Recht darauf haben würde.
Ende der Diskussion
Das Argument „das ist nicht natürlich“ begegnet mir im Zusammenhang mit meiner Transidentität auch sonst häufig. Besonders inflationär wurde es gebraucht, als meine Partnerin und ich uns inmitten von gebärenden Freundinnen wiederfanden und wir selbst uns auch Kinder wünschten. Ich hatte mich schon lange nicht mehr so im Abseits gefühlt.
Für mich ist es immer noch ein Totschlagargument. Der Punkt, an dem mein Gegenüber mir signalisiert: "Wir brauchen da jetzt nicht weiter drüber zu sprechen. Ich habe Recht. Es ist ok, wenn du es anders machst, aber natürlich (sprich: richtig) ist es nicht."
Was ist überhaupt Natur?
Da ich mich selbst als Konstruktivisten bezeichnen würde und ich mich im Studium mit nichts lieber beschäftigt habe, als damit, wie bestimmte Begriffe und Konzepte sich über die Zeit verändern, weiß ich für mich, dass auch der Begriff Natur sich verändert. Was ist Natur? Was ist Kultur? Für mich ist beides nicht getrennt voneinander zu denken.
Was genau soll überhaupt natürlich sein? Ist im Flugzeug durch die Welt düsen natürlich? Greife ich nicht auch in die Natur ein, wenn ich mir die Haare schneide oder mich schminke? Und selbst wenn wir eine klare Definition davon haben, was natürlich bedeuten soll, ist natürlich dann immer automatisch besser? Ist es besser an Tollwut zu sterben, als sich dagegen impfen zu lassen?
Und obwohl ich so denke und auch wenn ich mich durchaus 'natürlich' und als ein Teil dieser Welt fühle, kommt das „du bist ja auch nicht natürlich“-Argument immer wieder wie ein Faustschlag ins Gesicht oder ein Tritt in den Magen bei mir an. Wahrscheinlich ist es auch die Botschaft dahinter, die ich mithöre: Du gehörst nicht dazu. Du stehst außen vor und du bist selber Schuld daran!
An diesem Abend kam die rettende Stimme übrigens von völlig unerwarteter Seite. Die Mutter des ‚Geburtstagskindes‘, die ich auch erst an diesem Abend kennen gelernt hatte, hatte die meiste Zeit schweigend zugehört. Auf einmal sagte sie zu mir: „Wissen Sie was? Ich habe das Gefühl, Sie haben tatsächlich kein Problem mit Ihrer Transidentität. Es sind die anderen, die ein Problem haben. Wir haben ein Problem und das müssen wir für uns lösen. Das ist nicht Ihre Aufgabe.“
Der Arzt kam am nächsten Morgen übrigens auf mich zu und hat sich bei mir entschuldigt. Der Satz hatte ihn die ganze Nacht beschäftigt und am Ende hatte er ihn sehr bereut. Damit hatte ich nicht gerechnet und ich war froh, dass er sich getraut hat, diesen Schritt zu gehen. Menschen überraschen – immer wieder.